Ewigkeitssonntag – Hoffnung

Die Predigt von Prof. Dr. Henrik Simojoki

I/1     Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treiben.

Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt, den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muss man leben
I/2 Liebe Gemeinde,Ist die Liebe wirklich stärker als der Tod? Dieses Gedicht von Masha Kaléko macht uns eine Antwort nicht leicht. Oft gibt erst die Liebe dem Tod seinen Stachel. Oft macht gerade die Liebe den Tod so richtig stark. Denn die Liebe kann sich schlecht lösen. Sie trauert. Sie weint. Und vergisst niemals. Die Liebe findet, wohin sie auch schaut, Spuren des Menschen, den sie liebt, und sie sieht überall, dass er nicht mehr da ist: Das Haus ist still, der Kleiderhaken leer, das Leben nicht mehr so, wie es war.

„Bedenkt, den eignen Tod, den stirbt man nur, mit dem Tod der andern muss man leben.“

Wie soll ich leben, wenn sie, wenn er nicht mehr da ist? Meine Großmutter, mein Opa, meine Mutter, mein Vater, meine Frau, mein Mann, mein Kind.

I/3 Heute, am letzten Sonntag des Kirchenjahres, spüren wir, wie stark wir immer noch mit denen leben, die wir verloren haben, mit denen wir unser Leben teilten und die nun nicht mehr da sind. Wir denken an Menschen, die der Tod uns nahm, manchmal sanft und fast versöhnlich, dann wieder hart und unerbittlich.

Wir besuchen ihre Gräber und schmücken sie. Wir blicken dankbar auf Augenblicke zurück, die wir nur mit diesem Menschen verbinden. Doch oft fühlen wir uns – immer noch – namenslos einsam. Denn die Erfahrungen und Gefühle, die nur mit diesem Menschen möglich waren, gehören der Vergangenheit an. Das Angefangene bleibt unvollendet zurück, das Versäumte kann nicht nachgeholt, die Schuld nicht gutgemacht werden. Mit dem Tod des geliebten Menschen vergeht und verändert sich eine ganze Welt.

Wie soll ich leben, wenn sie, wenn sie nicht mehr da sind?

I/4 Hat der Tod einmal unser Leben berührt, sind wir einmal der Unausweichlichkeit des Todes begegnet, so will er nicht mehr von uns lassen. Der heilsame Abstand zwischen Leben und Tod ist weg. Im schlimmsten Fall kann der Tod das Leben vergiften; es wird bitter und schmeckt nicht mehr. „Allein im Nebel tast ich todentlang und lass mich willig in das Dunkel treiben. Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.“ Ich selbst und was ich liebe – es alles wird vergehen. Jedes Kalenderblatt, das ich abreiße, jede unerfüllte Hoffnung, jedes Scheitern erinnert mich an die Vorläufigkeit des Lebens. Der Tod nimmt uns alles, dem Tod kann niemand entrinnen.

 

II/1 Der Predigtabschnitt von heute entstammt einer Situation, in der Menschen sich damit abfinden müssen, dass jemand, den sie sehr lieben, vielleicht bald des gewaltsamen Todes sterben wird. Die christliche Gemeinde in Philippi – eine blühende römische Kolonie im heutigen Griechenland – wurde vom Apostel Paulus begründet und blieb ihm seitdem mit großer Herzlichkeit verbunden.

Eines Tages erreicht sie eine bedrückende Nachricht: Paulus sitzt in Untersuchungshaft. Die römischen Behörden machen ihm den Prozess. Es sieht nicht gut aus. Der Märtyrertod droht. Sofort schickt die Gemeinde einen Gesandten los. Er soll dem Apostel eine finanzielle Unterstützung als Zeichen der Verbundenheit überbringen und sich nach dessen Wohlbefinden erkundigen: „Wie geht es Dir? Wir machen uns Sorgen. Was wird aus uns, wenn Du nicht mehr da bist? Werden wir dich wiedersehen? Wir haben Angst vor dem Tod, vor Deinem, aber auch vor unserem.“ Der Apostel, bereits ein alter Mann, schreibt den Philippern daraufhin einen Brief. Es ist der persönlichste Brief, den wir von Paulus kennen, ganz von Freude und liebender Zuneigung geprägt. Ich lese aus dem ersten Kapitel:

Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn. Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen; und so weiß ich nicht, was ich wählen soll. Denn es setzt mir beides hart zu: Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen. Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben, damit euer Rühmen in Christus Jesus größer werde durch mich, wenn ich wieder zu euch komme

 

III/1 Ich erinnere mich an einen Gottesdienst in der Erlanger Vikariatsgemeinde meiner Frau. Neben mir saß ein älteres Ehepaar, das ihren vielleicht 10-jährigen Enkel mitgebracht hatte. Während der Predigt begann der Junge mit seinen Pokemon-Karten zu spielen, hörte aber aufmerksam zu.

Die Pfarrerin sprach von der Notwendigkeit, den schwierigen Fragen des Lebens nicht auszuweichen und stellte die vielleicht allerschwierigste in den Raum:

„Was kommt denn nach dem Tod?“ Das von ihr beabsichtigte betretene Schweigen konnte sich nicht einstellen. Der Junge hatte sich von seinen Karten gelöst und eher beiläufig, aber für alle hörbar, die Frage mit einem Wort beantwortet: „Leben“.

III/2 Eine fast rätselhaft kurze Antwort auf eine Frage, die uns normalerweise stumm macht. Das hat dieser Junge mit dem alten Apostel gemeinsam. Fast so alt wie die Menschheit selbst ist die Frage nach dem Leben. „Was ist das Leben?“ „Was ist sein Sinn?“ „Wo sind seine Grenzen?“ Wie der Junge beantwortet Paulus für sich diese Frage mit einem einzigen Wort: „Christus“. Ein Sinn, keine Grenzen.

Können wir unser ganzes Leben so auf einen Nenner bringen? Wir sind vorsichtig bei großen Worten. Denn wir sind nicht Apostel. Unser Leben ist vom Alltag durchtränkt, bruchstückhaft und zerrissen. In Familie, Beruf oder Freizeit sind wir nicht immer von Christus bestimmt. Und doch gilt die Verheißung, die in diesen Worten steckt, gerade uns:

Christus hat die Angst und den Schmerz des Todes auf sich genommen. Er hat uns bis in den Tod geliebt. Das Leben ist entgrenzt, der Tod entmachtet. „Christus ist mein Leben.“ Wer das sagt, für den gibt es nicht mehr Leben und Tod, sondern Leben und Leben. Wir leben jetzt und werden, hier redet Paulus in Einklang mit der Knabenstimme des Gottesdienstes: „leben“. Nicht der Tod, nein, Christus regiert das Leben.

 

 

III/3 „Sterben ist mein Gewinn“. Mit diesem Satz tun wir uns schwer. Was Paulus hier sagt, steht unter dem Vorzeichen seines Glaubens und seiner Lebensgeschichte. Hier spricht nicht jemand, der noch alles vor sich hat, kein Jugendlicher, kein junger Erwachsener, schon gar nicht ein Kind. Es sind aber auch nicht Worte der Bitterkeit, welche die Befreiung von einem unerträglichen Leben herbeisehnen. Es spricht hier ein alter Mann, der auf ein reiches Leben zurückblicken kann. Er will nicht deshalb sterben, weil er vom Leben enttäuscht ist oder nichts mehr zu erwarten hat, sondern weil er weiß, dass er nach seinem Tod noch inniger eins mit dem Leben sein wird. Manchmal treffe ich auf alte Menschen, die dem Tod nicht mehr angstvoll entgegenblicken, sondern die wie Paulus dem Leben das Genügen aussprechen können. Doch nicht uns allen ist das geschenkt: Wenn ein junges Leben vergeht, wenn dem Tod ein langer Leidensweg vorausgeht, wenn er plötzlich und unerwartet kommt, dann ist der Tod kein Gewinn, sondern bleibt ein dunkles Geheimnis.

III/4 Wir werden nach der Predigt uns etwas Zeit nehmen, um selbst an Menschen zu denken, die uns nahe waren und nicht mehr da sind. Vielleicht waren manche von Ihnen heute an dem Grabstein ziehen, der ihren, der seinen Namen trägt. Wie kann ich leben, wenn sie, wenn er nicht mehr da ist? Ich kann dazu nicht viel sagen, aber eines ganz gewiss: In Gott geht kein Name verloren. Für jede und jeden gilt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“

„Ewiges Leben“ gibt es nicht allgemein oder überhaupt. In Namenslosigkeit zu versinken, das erst ist der Tod. Der Tod flüstert: „Man stirbt.“ Paulus sagt: „Ich will bei Christus sein.“ „Ewiges Leben“ bedeutet, dass Gott dich, wie auch immer du heißt, gerade so, wie Du bist, ersonnen hat und liebt.

Er wird dich nicht aus seiner Hand fallen lassen. Der jüdische Maler Marc Chagall hat 1985 kurz vor seinem Tod zu Gott gesagt: „Ich komme zu Dir, doch es wird Nacht, bevor es Tag wird. Dann aber will ich weiter Bilder malen über den Himmel und über die Erde“. Der Tod wird das, was mich ausmacht, was mich „Ich“ sein und „Ich“ sagen lässt, nicht zerstören. Und auch das „Ich“ des geliebten Menschen, auch dieses „Ich“ wird nicht verhallen.

IV/1 Wir dürfen unsere Lieben und uns selbst in der Liebe Gottes geborgen wissen. Schauen wir auf Paulus! Der alte Mann, der sterben will, der dem Urteil staatlicher Behörden scheinbar machtlos ausgeliefert ist, entscheidet sich, zu leben. Ist das nicht erstaunlich?! Wir wissen nicht, ob sich die Lebensgewissheit des Apostels bestätigt hat. Aber wir sehen ganz genau: Angst, Ohnmacht, Tod – sie herrschen nicht mehr. Für den Glauben werden Kerkerwände durchsichtig.

 

IV/2 So gibt uns der Apostel Paulus, was wir so dringend brauchen: Mut durchzuhalten, wo wir gerne sagen würden: Es hat doch keinen Zweck. Mut mit Enttäuschungen und Niederlagen fertig zu werden. Und vor allem: Mut mit der Trauer zu leben, Schritt für Schritt Abschied zu nehmen und langsam den Blick nach vorne zu richten.

Liebe Gemeinde: der Tod hat nicht das letzte Wort; das letzte Wort hat Gott. Gott wird uns zurückgeben, was der Tod uns genommen hat. Er macht alles neu. Diese Hoffnung bringt uns heute zusammen, das feiern wir am Ewigkeitssonntag. Unsere Lieben sind gestorben, aber sie haben nicht aufgehört zu leben. Sie sind nicht für immer von uns getrennt. Sie sind uns voraus. Sie sind weiter als wir. In Christus leben die Toten. In Christus leben wir. Amen

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